Einsichten in Pflege und Purpose. Warum ergreifen Menschen den Beruf des Tierpflegers, fragt eine amerikanisch/kanadische Studie. Antwort: Sie folgen einer Bestimmung. Warum sollte es bei Tierpflegern auch anders sein als bei Pflegerinnen und Pflegern von Menschen?
Der Zoo als Arbeitsplatz. Eine Lehrerin steht mit ihrer Klasse am Elefantengehege, das gerade von zwei Tierpflegern gereinigt wird. „Seht“, sagt sie und zeigt zu den Pflegern, „das wird aus euch, wenn ihr in der Schule nicht aufpasst und schlechte Noten schreibt.“ Diese Anekdote erzählt ein amerikanischer Tierpfleger und schmunzelt. Vier von fünf Tierpflegern in den USA haben Abitur. Der Zoo als Arbeitsplatz ist kein Treff für Schulversager, im Gegenteil.
Warum ergreifen Menschen den Beruf des Tierpflegers, fragten zwei amerikanische Forscher, J. Stuart Bunderson und Jeffery A. Thompson. Ihre Studie erschien im März 2009 unter dem Titel »Der Ruf der Wildnis. Tierpfleger, Berufungen und die beiden Seiten von zutiefst bedeutungsvoller Arbeit«. Sie erscheint mir aus zwei Gründen spannend: zum einen, weil sie uns dazu anhält, über das Thema Bestimmung im Kontext unserer Arbeit zu reflektieren und deren Chancen und Risiken zu analysieren, zum anderen, weil die Studie zu den religiösen Wurzeln der Berufsidee führt und uns die Augen für den historischen Horizont öffnet.
Warum werden Menschen also Tierpfleger? Warum wählen sie schlecht bezahlte Jobs ohne Aufstiegsmöglichkeiten, die noch dazu frei von Status sind? Weil sie ihrer Berufung (Calling) folgen. Das wäre die kurze Antwort. Viel interessanter ist die lange Antwort, nicht nur für diejenigen, die in typischen Bereichen arbeiten, die mit Calling assoziiert werden – Kunst, Erziehung, Gesundheit, Militär, Sozialarbeiter –, sondern auch für diejenigen, die den Mechanismus verstehen wollen, der Calling, Purpose und Pflicht im Kontext von bedeutungsvoller Arbeit verknüpft. Dafür befragten die Autoren der Studie Tierpfleger in den USA und Kanada.
Tödliche Fehler: Wie Tierpfleger über ihre Tätigkeit denken
„Es gibt nicht viel, was sie tun könnten, damit ich kündige.“
„Es ist eine Berufung für mich, weil ich mein ganzes Leben an Tieren interessiert war. Rückblickend hätte ich wissen müssen, dass ich mit Tieren arbeiten würde.“
„Die Tiere haben niemals entschieden, hier zu sein. Und es ist unsere Verantwortung, ihnen die Pflege zu geben, die sie benötigen, und sicherzustellen, dass sie gesund und glücklich sind.“
„Wenn die Nachtwache anruft und sagt, wir haben ein Problem in deinem Bereich, dann bin ich sofort aus dem Bett und komme rein.“
„Wir werden hier nicht besonders gut bezahlt. Tatsächlich habe ich noch einen zweiten Job. Ich arbeite sieben Tage die Woche, um über die Runden zu kommen. Doch ich schätze, dass ist der Preis dafür, das zu tun, was du liebst. Ich habe hier freiwillig ohne Bezahlung eineinhalb Jahre gearbeitet.“
„Wenn du einen Fehler machst, kann das nicht nur dich selbst oder einen Kollegen das Leben kosten, du kannst auch eins dieser Tiere töten, weil sie sehr nervös sind.“
Pflege und Purpose: Am Anfang steht die Berufung
Tierpfleger in den USA und Kanada werden so schlecht bezahlt, dass zwei Drittel eine zweite Einkommensquelle haben. Es ist schmutzige Arbeit ohne Status. Es gibt kaum Möglichkeiten aufzusteigen. Bevor Tierpfleger eine Festanstellung bekommen, arbeiten sie monate- oder sogar jahrelang ohne Bezahlung als Freiwillige. Dennoch lieben sie ihre Arbeit und würden sie gegen keine andere eintauschen. Zoos, so die Wahrnehmung der Tierpfleger, helfen, vom Aussterben bedrohte Tierarten zu erhalten. Zoos seien darüber hinaus Orte, die danach strebten, den Menschen, ganz besonders Kindern, die Tierwelt näherzubringen und über mögliche destruktive Gewohnheiten aufzuklären.
Tierpfleger sehen ihre Aufgabe im Kontext dieses höheren Purpose. Hier kommt die Berufung ins Spiel. Tierpfleger, so die Studie, erzählen ähnliche Lebensgeschichten. Am Anfang steht fast ausschließlich eine Berufung, der sie folgen. Sie wissen es einfach: Ich muss mit Tieren arbeiten, ich muss in den Zoo. Diese Berufung gibt der Aufgabe persönliche und soziale Bedeutung. Ich tue es für mich und die Gesellschaft und die Tiere. Darüber hinaus gehen Tierpfleger davon aus, dass sie eine bestimmte Begabung mitbringen. Sie können es einfach, es gibt diesen Draht, der sie mit den Tieren verbindet, während sie zu Menschen häufig weniger guten Zugang haben.
Rückwirkend, erklären sie, hätten sie schon in ihrer Kindheit wissen können, dass sie eines Tages mit Tieren in einem Zoo arbeiten würden. Sie wählen ihren Beruf nicht wie andere Berufe wählen. Es ist vielmehr eine Berufung. Nicht sie haben die Aufgabe gewählt, sondern die Aufgabe sie. Tierpfleger, das war immer die richtige Arbeit für sie, sie mussten es lediglich erkennen. Und nun, in dieser Welt und Tätigkeit angekommen, können sie in perfekter Weise ihre Fähigkeiten und Talente und Vorlieben zum höheren Wohl nutzen.
Wer berufen ist, erträgt fast jedes Wie: Es geht nicht um Jobs, sondern um Identität
Tierpfleger sprechen nicht über Jobs, sondern über Identität, über die Frage: Wer bin ich? Bin ich jemand, der durchs Leben stolpert und Gelegenheiten nutzt, die das Leben bietet, oder bin ich jemand, der von etwas gezogen wird: vom Purpose, von der Bestimmung, vom Calling, von der Berufung? Die Entscheidung der Tierpfleger für den zweiten Weg beinhaltet auch ein Bekenntnis zu unnachgiebiger Pflicht, zu persönlichen Opfern und großer Wachsamkeit. Der schmutzige Teil der Arbeit wird ertragen, die schlechte Bezahlung und die Überstunden werden akzeptiert, die Gefahren und physischen Herausforderungen erduldet – nicht schön, doch unabänderlich.
Purpose und Pflege: Die Autoren der Studie halten es für eine starke Annahme, dass diejenigen mit einem Sinn für Berufung verletzlich sind in Bezug auf die Ausbeutung durch das Management, weil unvorteilhafte Bezahlung oder Arbeitsbedingungen wahrscheinlich einfach als ein weiteres Opfer gedeutet werden, das man erbringen muss, um dem Ruf zu folgen. Wer seiner Berufung folgt, der muss sich eben fügen. Doch wer berufen ist, der erträgt fast jedes Wie. Kennen wir alle, von uns selbst oder unserer Familie oder unserem Freundeskreis. Der Geist der Tierpfleger ist überall – kaum ein sozialer Beruf ohne dieses Dilemma, kaum ein Künstler, der nicht zu hören bekommt, er habe ja wohl sein Hobby zum Beruf gemacht.
Gottesdienst: Die Anfänge der Berufung gehen zurück auf Martin Luther
Ein kurzer Ausflug in die Geschichte, denn das alles, erklären Bunderson und Thomson, sei beim besten Willen kein neues Thema. Es reiche zurück bis zur Reformation. Sie sprechen von einer »neoklassischen Berufung«, weil vor ca. 500 Jahren das Konzept, auf das sich heutige Tierpfleger beziehen, in die Welt kam, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Schauen wir uns dieses Konzept an. „Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen“, predigte Martin Luther, der Reformator. Während Lohnarbeit weder in der Antike noch im Mittelalter geschätzt wurde, brachte die Reformation eine Neubewertung. Martin Luther erklärte, dass Arbeit tatsächlich gar kein notwendiges Übel sei, sondern ein göttliches Angebot. Luther hob die Unterscheidung zwischen höheren und niederen Tätigkeiten (priesterliche Tätigkeit und weltliche Alltagsarbeit) auf. Alle Arbeit, sagte er, sei Ausdruck der Nächstenliebe. Es gebe eine innere und eine äußere Berufung, die eine sei die Berufung zur konkreten Tätigkeit, die andere sei die Berufung, Gott zu ehren und damit der Gemeinschaft zu dienen.
Kurz gesagt, alle Arbeit war für Luther Gottesdienst. Auch die der einfachen Hausmagd, von der er schreibt, dass sie als Antwort auf die Frage, warum sie das Haus kehre und die Kühe melke, antworten könne: „Ich weiß, dass meine Arbeit Gott gefällt, weil ich sein Wort und seinen Befehl für mich habe.“
Ein radikaler und folgenreicher Einschnitt. Der Soziologe Max Weber beschreibt in seinem Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, wie Luthers Konzept von Arbeit als Berufung weltanschaulich ausgeweitet und zum Hintergrund des Kapitalismus wurde. Pflicht und Fleiß und das Fügen in die vorgefundenen Arbeitsbedingungen – all das im Dienst am Nächsten und zu Ehren Gottes – das seien die Basics des protestantischen Arbeitsethos.
An der richtigen Stelle: Dienst an den Tieren und an der Gesellschaft
Auch wenn die Mechanik, die hinter dem Beruf und der Berufung wirkt, große Ähnlichkeit mit den Gedanken der Reformation besitzt, gibt es einen gravierenden Unterschied: Die Tierpfleger kommen ohne den Verweis auf einen Gott aus. Sie sagen: „Die Dinge entwickelten sich für mich genauso, wie es sein sollte … Irgendwie bin ich da reingefallen“ oder „Ich bin einfach nur an den richtigen Stellen gelandet.“
Schicksal, Vorsehung, Glück – irgendeine fremde, höhere Macht habe sie dorthin geführt, wo sie ihren Fähigkeiten und ihrer Vorstellung gemäß wirken könnten. Und weil diese höhere Macht irgendwie diffus ist, ist auch der Sinn der Arbeit um den göttlichen Aspekt gekürzt. Ansonsten aber scheint alles identisch. Die Tierpfleger helfen der Gesellschaft und den Tieren. Purpose und Pflege, das ist das zentrale Motiv. Nur ist ihre eben kein Gottesdienst mehr, sondern „nur noch“ Dienst an der Gesellschaft.