Langfristig denken – wie gelingt es mir, mich von der Gegenwart zu lösen und meine Imagination auf Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte umzustellen und damit Entscheidungen zu treffen, die wirklich nachhaltig sind. Dafür gibt es sechs Leitfragen, die ich in dem Buch The good ancestor des australischen Autors und Philosophen Roman Krznaric fand.
Sein Buch befasst sich mit der Notwendigkeit, langfristige Herausforderungen anzugehen – Klimakrise, künstliche Intelligenz, Rassismus und die Ungleichheit, angelegt in unseren politischen und wirtschaftlichen Systemen. Wie richte ich meinen Purpose aus und handle so, dass ich ein guter Vorfahre bin, betrachtet aus der Perspektive zukünftiger Generationen?
Langfristig denken: Das sind die 6 zentralen Fragen
- Was waren für mich die stärksten Erfahrungen von deep time?
- Was sind für mich die stärksten Gründe, mich um zukünftige Generationen zu kümmern?
- Was will ich meiner Familie, meiner Community, der Welt hinterlassen?
- Was ist für mich das höchste Ziel der menschlichen Spezies?
- Was für eine Zukunft sehe ich: Zusammenbruch, Transformation oder ein neuer Weg?
- Was für ein Langzeitprojekt könnte ich verfolgen, das meine eigene Lebenszeit überschreitet?
Um diese Fragen im Detail besser zu verstehen, hier einige Erläuterungen.
Deep Time bedeutet zu sehen, dass die rund 200.000 Jahre, die die Menschheit auf der Erde verbracht hat, nur ein Wimpernschlag in der Geschichte des Kosmos sind. Wir erkennen, dass wir in wenigen Jahrhunderten wir eine Welt an den Rand der Zerstörung gebracht haben, die Milliarden von Jahren brauchte, um sich zu entwickeln. Jeder von uns hat diese Erfahrungen, nur ein winziges Glied in der großen Kette lebender Organismen zu sein; diese Erfahrungen sind fundamental für langfristiges Denken.
Was steht dagegen? Die Tyrannei der Uhr.
Ein Denken, das zukünftige Generationen einbezieht, orientiert sich in der Regel an unseren Kindern und Enkelkindern. Es gibt aber auch Gruppen wie das Future Design aus Japan, in denen Städte in Bürgerversammlungen so geplant werden, dass sich die Bewohner vorstellen, sie würden aus künftigen Generationen stammen. Aus dieser Perspektive entwickeln sie die Zukunft.
Was steht dagegen? Politische Kurzsichtigkeit.
Ein Vermächtnis für Menschen, die wir nie kennen werden
Über das zu meditieren, was ich hinterlassen will, führt weit über eine klassische Erbschaft hinaus. Es geht vielmehr darum, eine transzendente Vermächtnis-Mentalität zu entwickeln, bezogen auf Menschen, die wir nie kennen werden. Ein Beispiel: Katie Patersons Kunstprojekt „Future Library“ organisiert, dass jedes Jahr ein berühmter Schriftsteller (die erste war Margaret Atwood) ein neues Werk schreibt und hinterlegt. Die Bibliothek wird bis zum Jahr 2114 ungelesen bleiben.
Was steht dagegen? Die digitale Ablenkung.
Das höchste Ziel der menschlichen Spezies? Darauf gibt es viele Antworten. Eine mögliche wäre, unser Heil auf dem Mars oder anderen Planeten zu suchen. Eine andere wäre: Alles dafür zu tun, um auf der Erde langfristig zu gedeihen, denn das ist ein guter Garant für eine nachhaltige Zukunft. Stichwort ökologische Ökonomie: Nicht mehr Ressourcen verbrauchen, als die Erde auf natürliche Weise regenerieren kann.
Was steht dagegen? Eine andere Idee von Fortschritt.
Kathedralen, deren Vollendung wir nicht erleben
Für die Zukunft gibt es eine Reihe von Optionen. Experten sehen im Wesentlichen drei große Szenarien. Wir machen weiter wie bisher und das führt zum Zusammenbruch. Wir reformieren unsere Welt Schritt für Schritt. Oder wir transformieren uns und verabschieden uns rigoros von einer Wachstumskurve. Welches Szenario halten wir für das angemessenste?
Was steht dagegen? Unsichere Prognosen.
Langzeitprojekte überschreiten unsere eine Lebenszeit. Wir planen über diese hinaus: Gebäude, gesellschaftliche Veränderungen, Infrastrukturen … Krznaric nennt das auch Kathedralen-Denken. Es geht darum, dass wir an Projekte herangehen wie mittelalterliche Kathedralenbauer, die mit dem Bau begannen und wussten, dass sie die Fertigstellung wahrscheinlich nicht mehr erleben würden.
Was steht dagegen? Ökonomische Kurzfristplanung.
Langfristig denken – mit diesen sechs Fragen schaffen wir uns einen gedanklichen Rahmen, in dem wir operieren können. Dabei geht es nicht um wenige Jahre oder Jahrzehnte, sondern eher um dreistellige Zahlen: 100 Jahre und darüber hinaus.