Die Bedürfnispyramide von Maslow ist ein Klassiker der positiven Psychologie. Doch wie genau ist sie zu verstehen und wie hilft sie uns, ein besseres Leben zu leben und positiv auf das Leben von Anderen zu wirken? Dieser Beitrag gibt eine praxisnahe Einführung.
Die Entwicklung und Ausarbeitung der Pyramide von Bedürfnissen und Motivationen beschäftigte Maslow drei Jahrzehnte. In seinem Buch Motivation und Persönlichkeit von 1954 erklärt er sein Modell aus verschiedenen Perspektiven. Zu dieser Zeit hat es 5 Stufen.
Später kommen Stufen hinzu, die allerdings bereits in dem frühen Buch beschrieben werden. Nur werden sie hier zusammengefasst als Elemente von „Selbstverwirklichung“. Diese Bedürfnisse zerlegt Maslow später genauer.
Im Kontext von Purpose und Werten macht es meiner Meinung nach Sinn, sich die spätere Version mit den 8 Stufen anzusehen, weil sie genauer unterscheidet. Und weil sie intellektuelle, kreative und spirituelle Ebenen bzw. Wege unterscheidet, die zu einem sinnerfüllten Leben führen.
Darüber hinaus ergibt sich eine Symmetrie der Pyramide: die unteren 4 Stufen beschreiben eine „Mangelorientierung“, die oberen 4 Stufen dagegen eine „Wachstumsorientierung“.
Die 8 Stufen der Bedürfnispyramide von Maslow
Das Modell unterscheidet verschiedene Klassen von Bedürfnissen. Auf der linken Seite finden sich in der Infografik der Pyramide die Bedürfnisse in abstrakter Form (z.B. Zughörigkeit & Liebe) und auf der rechten Seite in konkreter (Familie & Freundschaft). Die Bedürfnispyramide von Maslow beginnt mit materiellen Bedürfnissen wie Essen und Trinken und bewegt sich von dort aus zu immer höheren Ebenen menschlicher Existenz. Ganz oben befinden sich transzendente Bedürfnisse. Wir gelangen über uns hinaus, indem wir unsere Persönlichkeit entfalten und schließlich, gemäß unserem Purpose und unseren Werten, anderen dabei helfen, sich zu entfalten.
Grundsätzlich geht der Weg der Bedürfnisse von unten nach oben. Erst das Fressen, dann die Moral, sagt der Volksmund. Doch ganz so einfach ist es nicht. Asketen zum Beispiel bewegen sich durch eine andere Pyramide als Künstler oder Controller.
Das dynamische Grundprinzip besagt, dass relative Befriedigung von Bedürfnissen es einem höheren Ensemble von Bedürfnissen erlaubt, aufzutauchen und die Persönlichkeit (neu) zu organisieren. Man tauscht eine alte Abhängigkeit gegen eine neue Abhängigkeit von befriedigenden Faktoren aus. Und wir neigen dazu, „bereits vorhandene Segnungen als gegeben hinzunehmen, besonders wenn wir nicht mehr für sie arbeiten oder kämpfen müssen“.
1. Biologische & physiologische Bedürfnisse
Um zu leben, müssen wir essen und trinken. Maslow sagt, dass diese körperlichen Bedürfnisse, die mächtigsten unter allen sind. Er schreibt: „Das bedeutet insbesondere, dass in einem menschlichen Wesen, dem es im Leben extrem an allem mangelt, am wahrscheinlichsten die physiologischen Bedürfnisse vor allem anderen die Hauptmotivation darstellen werden. Jemand, dem es an Nahrung, Sicherheit, Liebe und Wertschätzung mangelt, würde wahrscheinlich nach Nahrung mehr als nach etwas anderem hungern.“
Wer hungert, der wird nicht entspannt ein Rilke-Gedicht lesen oder mit Freunden eine politische Diskussion führen wollen. Doch ist der Hunger gestillt, bewegen wir uns genau in diese Richtung. Grundsätzlich ist der Mensch ist für Maslow ein begehrendes Wesen. Nur verlangt er bei gestilltem Hunger nicht mehr nach Brot, sondern nach etwas anderem.
2. Sicherheitsbedürfnisse
Sobald die biologischen Bedürfnisse gestillt sind, erscheint ein neues Ensemble von Bedürfnissen. Es ist das Verlangen nach Sicherheit, Stabilität, Geborgenheit, Schutz, Struktur, Ordnung, Grenzen etc. Wir wollen in einer voraussagbaren, geregelten Welt leben.
Um diese Sicherheitsbedürfnisse deutlich zu machen, wendet sich Maslow dem Kind zu, bei dem wir vielleicht deutlicher als bei uns selbst beobachten können, wie wichtig und stark sich diese Bedürfnisse auf dessen Zufriedenheit auswirken. In einer unsicheren, chaotischen Umgebung geht es uns genauso, wie wenn wir hungern – „alles wird praktisch weniger wichtig scheinen als Sicherheit und Schutz“.
3. Bedürfnisse nach Zugehörigkeit & Liebe
Sind die physiologischen und die Sicherheitsbedürfnisse befriedigt, betreten wir die nächste Stufe der Pyramide. Liebe, Zugehörigkeit und Zuneigung werden zum Zentrum unserer Bedürfnisse. Wir hungern jetzt nach einem Platz in der Gruppe, der Familie, dem Team, der Beziehung.
Maslow schreibt: „Man wird sogar vergessen, dass man einst, als man hungrig war, sich über Liebe als unwirklich, unnotwendig oder unwichtig lustig gemacht hat. Jetzt hingegen wird man Einsamkeit, Ächtung, Zurückweisung, Isolierung, Entwurzelung besonders stark empfinden.“
4. Bedürfnisse nach Wertschätzung
Diese Bedürfnisse unterteilt Maslow in zwei Gruppen: die Selbstachtung und die Achtung durch andere. Auf dieser Stufe der Pyramide geht es darum, stark zu sein, leistungsfähig und kompetent. Hinzu kommt der Wunsch nach einem guten Ruf, nach Image und Prestige, Ruhm und Status.
Maslow schreibt: „Die Befriedigung des Bedürfnisses nach Selbstachtung führt zu Gefühlen des Selbstvertrauens, der Stärke, der Fähigkeit, dem Gefühl, nützlich und notwendig für die Welt zu sein. Doch Frustrierung dieses Bedürfnisses bewirkt Gefühle der Minderwertigkeit, der Schwäche und Hilflosigkeit.“
5. Kognitive Bedürfnisse
Auf dieser Stufe der Bedürfnispyramide von Maslow macht sich der Hunger nach Wissen bemerkbar, die Neugier, der Forschungsgeist. Wir spüren eine intellektuelle Leere, wenn wir nicht lernen und uns bilden.
Maslow schreibt, dass die Befriedigung kognitiver Antriebe hoch zufriedenstellend ist. „Obwohl man diesen Aspekt der Einsicht und des Verstehens zugunsten der erreichten Resultate, des Lernen und so weiter vernachlässigt hat, trifft es dennoch zu, dass Einsicht gewöhnlich einen glücklichen, strahlenden, emotionalen Punkt im Leben darstellt, vielleicht sogar den Höhepunkt eines Lebens.“
6. Ästhetische Bedürfnisse
Die ästhetischen Bedürfnisse überlappen sich mit den kognitiven. Doch geht es eben nicht um Bedürfnisse, die uns in ausgeprägter Form zu Forschern und Denkern machen, sondern zu Menschen mit einem Sinn für Symmetrie, Stimmigkeit etc. Maslow betont, dass es Menschen mit einem “aktiven Verlangen nach Schönheit“ gibt – in jedem Zeitalter und in jeder Kultur.
Dabei denkt er nicht notwendig an Picasso oder Frida Kahlo, sondern fasst diese künstlerischen Bedürfnisse viel allgemeiner. Er fragt etwa: „Was zum Beispiel bedeutet es, wenn man einen starken bewussten Impuls verspürt, ein schief hängendes Bild zurechtzurücken?“
Kreativität sieht Maslow als ein Bedürfnis, das bei kreativen Menschen stärker ausgeprägt ist als viele andere Grundbedürfnisse. Auch sieht er kreative Tätigkeit nicht notwendig als Selbstverwirklichung, wie man heute vielleicht sagen würde. Für Maslow ist dieses Bedürfnis ein ganz eigenes. Man ist kreativ, weil man kreativ ist. Man liebt Kunst, weil man Kunst liebt.
7. Selbstverwirklichung
Für Maslow ist der in seinen Grundbedürfnissen befriedigte Mensch, wie er schreibt, „für die Selbstverwirklichung freigegeben“. Mit dieser Spitze der Pyramide befasst er sich intensiv. Eine zentrale Beobachtung ist, dass die es hier weniger um die Art von Motivation geht, die bislang vorlag, sondern mehr um persönliche Entfaltung.
Auf dieser Stufe geht es darum, „den eigenen Stil“ Schritt für Schritt so vollständig wie möglich zu entwickeln. „Für diese Menschen ist Motivation nur eine Charakterentfaltung, Charakterausdruck, Reife und Entwicklung – mit einem Wort: Selbstverwirklichung.“ Damit sind sie für Maslow Ausdruck der „ursprünglichen Natur“ des Menschen.
8. Transzendenz
Die letzte Stufe der Pyramide wendet sich vom Ich ab. Es geht darum, andere dabei zu unterstützen, sich zu verwirklichen. Menschen, die auf dieser Stufe angekommen sind, nehmen, wie der Psychologe Alfred Adler sagen würde, die Ältere-Bruder-Haltung ein.
Schon auf der Stufe der Selbstverwirklichung verschwinden viele Gegensätze, die das Leben der meisten Menschen bestimmen, zum Beispiel die zwischen Denken und Fühlen, Pflicht und Freiheit. In der Transzendenz verschwindet auch der Gegensatz von Egoismus und Selbstlosigkeit – jede Handlung ist ebenso egoistisch wie selbstlos.
Auf der Stufe der Transzendenz wird ein Purpose elementar wichtig, der über das eigene Selbst hinausweist und einen höheren Zweck folgt. Dies kann das Streben nach spirituellen Erfahrungen, das Bedürfnis, anderen zu helfen und etwas Größeres als das eigene Selbst zu erreichen, umfassen. Im Kern geht es um Vorstellungen von Menschen mit Haltung und starken Werten, die ihre Existenz in den Dienst einer Aufgabe stellen, die größer ist, als Geld zu verdienen und einem Wir nützt.
Beispiele für die Bedürfnispyramide von Maslow
Maslow gibt viele Beispiel für die verschiedenen Bedürfnisse. Dafür nutzt er die Entwicklung des Kindes, die pathologischen Entwicklungen und qualitative Studien, die er zitiert. Leider finden sich selten konkrete Storys zur Illustration, Maslow bleibt meist allgemein.
Die Rückkehr unterschätzter Bedürfnisse
Ein Bedürfnis, das lange Zeit befriedigt wurde, wird unterschätzt. Menschen, die nie chronischen Hunger hatten, unterschätzen dessen Auswirkungen. Bei sich und bei anderen. So wird ein Mensch, der seinen Job verliert und sich schließlich hungernd auf der Straße findet, Hunger neu bewerten. Und ebenso den Status, den sie oder er vorher genossen und als erstrebenswert angesehen hat.
Multiple Motivationen
Maslow schreibt, dass die Bedürfnisse „keineswegs ausschließlich oder alleinige Determinanten bestimmter Verhaltensweisen sind … Man isst teilweise des vollen Magens wegen und teilweise wegen des Behaglichkeitsgefühls und der Besserung anderer Bedürfnisse. Man schläft mit einer Frau nicht nur wegen der rein sexuellen Befriedigung, sondern auch, um sich seiner eignen Männlichkeit zu vergewissern oder um eine Eroberung bestätigt zu bekommen, sich machtvoll zu fühlen, mehr grundlegende Zuneigung zu gewinnen.“
Das macht die Pyramide realistischer, aber auch komplexer. Sie ist kein Modell, dass den Menschen und seine Handlungen vollständig erklärt. Aber sie gibt Aufschluss über eine gewisse Logik der Entwicklung von Motiven und Bedürfnissen. Darin liegt der Charme der Bedürfnispyramide von Maslow.
Psychologische Gesundheit
Maslow stellt sich fünf Personen vor, die er einfach A, B, C, D, E nennt. A hat einige Wochen in einem gefährlichen Dschungel gelegt und ist am Leben geblieben, weil er gelegentlich Wasser und Nahrung gefunden hat. B bleibt nicht nur am Leben, sondern hat auch eine Höhle. C hat all das plus zwei Begleiter. D hat Nahrung, Begleiter, die Höhle und seinen besten Freund an seiner Seite. E ist darüber hinaus auch noch der geachtete Leader der Gruppe.
Maslow kommentiert sein Beispiel so: „Dies stellt nicht nur eine Stufenleiter von Befriedigungen der Grundbedürfnisse dar: Es handelt sich auch um eine Skala zunehmender psychologischer Gesundheit.“ Für ihn korreliert Gesundheit mit der Stufe der Pyramide, die erreicht wird. Die Annahme dahinter ist, dass Gesundheit nicht die Abwesenheit Krankheit ist, sondern dass in diesem Begriff auch die „höchsten Fähigkeit“ des Menschen enthalten sein müssen.
Lebensalter und Selbstverwirklichung
Maslow betont, dass Selbstverwirklichung und Transzendenz Stufen sind, die wir erst in höherem Lebensalter erreichen. Er schreibt: „Gemessen mit den Kriterien, die ich verwendet habe, kommt Selbstverwirklichung bei jüngeren Menschen nicht vor.“
Die Annahme dahinter ist, dass wir zunächst eine Reihe von Erfahrungen gemacht haben müssen, die unseren Charakter formen und uns ermöglichen, die höchsten Stufen zu erklimmen. Maslow fasst diese Erfahrungen in einem sehr langem Satz zusammen, aus dem ich Stücke montiere: „Sie haben ihr eigenes Wertesystem noch nicht erarbeitet, noch haben sie genügend Erfahrungen gehabt (Verantwortung für andere, Tragödie, Versagen, Leistung, Erfolg), um perfektionistische Illusionen abzulegen und realistisch zu werden; noch haben sie ihren Frieden mit dem Tod gemacht … noch haben sie genügend Courage erworben um unpopulär zu sein, sich nicht dafür zu schämen geradeheraus tugendhaft zu sein und so weiter.“
Schädlicher Überfluss
Anstatt sich in eine positive Richtung zu bewegen, mag es auch in eine weniger gute Richtung gehen, wenn die Grundbedürfnisse befriedigt sind. Maslow nennt das die „Pathologie aus psychologischem Überfluss“. Ein komplexer Prozess. Maslow betont, dass hier ein Fehlen der Werte und der Sinnhaftigkeit vorliegen. Ein Mangel an Purpose.
Maslow schreibt, „dass die Befriedigung aller Grundbedürfnisse nicht automatisch das Problem der Identität löst, der Wertesysteme, der Berufung im Leben, der Sinngebung“. Für einige Menschen sind dies getrennte Aufgaben. Heute, einige Jahrzehnte nach Maslows Forschungen, lässt sich dieser Punkt nur unterstreichen.
Wie nutze ich die Bedürfnispyramide von Maslow für meine Entwicklung
Der Charme von vergleichsweise einfachen Modellen wie dem von Maslow liegt darin, dass wir es, ähnlich wie die Archetypen von C.G. Jung, schnell begreifen und uns fragen: Auf welcher Stufe stehe ich, mein Team, mein Unternehmen? Von da aus ergeben sich weitere Fragen.
Nach oben blickend: Wie erreichen wir die nächste Stufe? Was bedeutet Transzendenz für mein Leben? Wie kann ich das Leben von anderen positiv beeinflussen und damit zugleich meine eigene Menschlichkeit auf das höchste Level bringen?
Nach unten blickend: Woher komme ich? Bin ich Stufe für Stufe gegangen oder habe ich Stufen übersprungen? Wenn ich sicher aufgewachsen bin und nie Hunger gelitten habe – wie bekomme ich eine Vorstellung davon, was das für Menschen bedeutet? Ohne dieses Wissen kann ich niemals die höchsten Stufen erreichen.
Dabei sollte Maslows Modell nicht das einzige sein, an dem wir uns orientieren. Es ist geprägt von der Atmosphäre eines Nachkriegsamerikas. Heute leben wir in einer anderen Welt. In der das, was Maslow Transzendenz nennt, wichtiger ist, denn je. Zum Beispiel bezogen auf die Gemeinschaft und den Planeten als zentrale Stakeholder.